Kunstinitiative

des Gedenkens

von

Konstanze Sailer

When War Returns XII:

"Erinnerungsdefizite"

Ausstellung 01. - 31. Januar 2023

Alois Hofer

 

Alois Hofer (* 20. Juni 1899 in Wöbling bei Graz; † 24. Oktober 1940 im NS-Gefängnis Brandenburg-Görden) wurde aufgrund seiner religiösen Überzeugung und pazifistischen Haltung ermordet. Alois Hofer war Schumacher und seit 1927 Mitglied der Bibelforscher. Im Juni 1940 wurde er in Graz verhaftet, nach Berlin überstellt, wegen „Zersetzung der Wehrkraft“ zum Tod verurteilt und im Gefängnis Brandenburg-Görden enthauptet.

 

Bis zum heutigen Tag existiert weder in Graz noch in der Umgebung der Landeshauptstadt eine Straße, die seinen Namen trägt.

"Schrei 21:13 Uhr", 2015, 48 x 36cm; ©: Konstanze Sailer
"Schrei 21:13 Uhr", 2015, 48 x 36cm; ©: Konstanze Sailer
"Schrei 23:40 Uhr", 2015, 48 x 36cm; ©: Konstanze Sailer
"Schrei 23:40 Uhr", 2015, 48 x 36cm; ©: Konstanze Sailer

Alois Hofer hätte

 

„nur" die zynische NS-Erklärung" unterschreiben müssen, um sein Leben zu retten. Er schwor je- doch seinem Glauben nicht ab, wurde zum Tod verurteilt und ermordet.

 

Jehovas Zeugen griffen nicht zur Waffe, sondern hielten strikt am biblischen Tötungsverbot fest. Gott war ihr Heilsbringer, sie lehnten daher jegliche Heils-ideologie des NS-Führerkultes ab. Sie wurden deshalb u.a. als „wehrkraftzersetzende Staats-feinde“ klassifiziert und verfolgt.

 

Mit lila Winkeln, jenen farbigen, gleichschenkligen Stoffdreiecken auf der KZ-Häftlingskleidung wur-den die "Ernsten Bibelforscher" nicht nur ihrer  Grundrechte beraubt, sondern ... 

"Schrei 23:02 Uhr", 2015, 48 x 36cm; ©: Konstanze Sailer
"Schrei 23:02 Uhr", 2015, 48 x 36cm; ©: Konstanze Sailer

...  gewaltsam kategorisiert und damit entindividualisiert.  

 

Die verschiedenen Gruppen von Bibelforscherinnen und Bibel- forschern befolgten allesamt die staatlichen Gesetze. Sie weiger-ten sich jedoch konsequent, in Rüstungsfabriken zu arbeiten oder NS-Loyalitätsbezeugungen abzugeben.

 

Von einzelnen Ausnahmen ab-gesehen, unterzeichnete kein Bibelforscher die menschen- und religionsverachtende „NS-Erklärung“. Von den Tausenden in Konzentrationslagern und Gefängnissen internierten Bibelforschern wurden über 1.500 ermordet. Mehr als 250 Todesurteile wurden vom Reichskriegsgericht wegen Kriegsdienstverweigerung ausgesprochen und zumeist durch das Fallbeil vollstreckt.

"Erinnerungsdefizite 2023"

 

 

Viele, teils renommierte Persönlichkeiten machten nicht nur vor und nach, sondern auch während des Nationalsozialismus zum Teil glänzende Karrieren. Nebst Politik und Wirtschaft auch in der Wissenschaft und Kunst. Den Jahren der zunächst nur zögerlichen Aufarbeitung der NS-Geschichte folgten Jahrzehnte der umfassenden Forschung und Dokumentation.

 

Doch zu den schmerzlichen Erinnerungslücken zählen u.a. Straßennamen, die nach wie vor nach Menschen benannt sind, die in einem Naheverhältnis zum NS-Regime gestanden waren. Die Namensgeber waren teils NSDAP-Mitglieder oder in NSDAP-Vorfeldorganisationen engagiert, viele sympathisierten offen mit der rassistischen NS-Diktatur, teils aus innerer Überzeugung, teils aus rücksichts- losem Karrierestreben, indem sie sich dem Regime geradezu andienten.

 

Allen jenen Menschen, die damals auf der „falschen Seite der Geschichte“ gestanden waren, sollen ihre wissenschaftlichen, künstlerischen oder sonstigen Fähigkeiten und Leistungen weder abgesprochen noch weggenommen werden. Doch sie standen nicht auf der Seite der Millionen NS-Opfer, welche in den Konzentrationslagern jener Zeit ermordet, vergast, erschossen oder durch bewusste Unterernährung getötet wurden. Sie waren vielfach Mitläufer auf der Seite eines Unrechtsregimes, das Millionen Juden, hunderttausende Roma und Sinti, Zeugen Jehovas, homosexuelle Männer und Frauen sowie politisch Andersdenkende auf industrielle Weise systematisch vernichtet hat.

 

Nicht jeder Mensch eignet sich zum Helden, die Zwänge des NS-Alltags waren schrecklich. Hannah Arendt erinnerte etwa daran, dass jeder banale Einkauf durch die Grußpflicht bereits einem politischen Akt ähnelte. Doch letztlich konnte in einem gewissen, minimalen Freiraum fast jeder Mensch eine Entscheidung treffen: die Entscheidung des eigenen Verhaltens zu diesem unmenschlichen, mörderischen Regime.

 

Im Laufe der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden zahlreiche, einst nach prominenten NS-Tätern benannte Straßen Wiens und anderer Orte umbenannt.

 

Doch wo sind die Straßen, die der Opfer der NS-Diktatur gedenken? Etwa der jüdischen WissenschaftlerInnen, KünstlerInnen und Persönlichkeiten, die Wien in der Ersten Republik prägten? Die Wien eine kulturelle Identität verliehen und zwischen 1938 und 1945 verfolgt, deportiert und in den Konzentrationslagern ermordet wurden? Weshalb behalten nach wie vor viele der NS-Mitläufer ihre Straßennamen? Und wieso enthüllen Politiker hauptsächlich nur Zusatztafeln?

 

Die Opfer der NS-Diktatur tun das, was sie seit nunmehr etwa 80 Jahren tun: sie stören die Kontinuität dieses kommunalpolitischen Ablaufs nicht. Sie werden sich weiterhin dazu ruhig verhalten, dass nicht sie, die Opfer Straßennamen erhalten, sondern weiterhin die anderen. Sie werden auch künftig nicht ihr Recht einfordern können, dass ihrer gedacht werde, weil sie die Verfolgten und Ermordeten waren. Sie werden nicht aufbegehren, sich nicht in Gegenrede üben, nicht dagegen demonstrieren, dass so viele von denen, die in der NS-Zeit ge-schickt glänzende Karrieren machten, auch heute noch mit Straßennamen dankend bedacht werden. Nicht einmal dagegen, dass einige von diesen erst in den 1990er und 2000er-Jahren diese Straßennamen neu verliehen bekamen.

 

Die während der NS-Diktatur Deportierten und Ermordeten zählten gleicher-maßen zu den Dagewesenen. Sie nahmen am Stadtgeschehen teil und trugen zur Kultur bei, sie wollten zu einer besseren Zukunft beitragen. Sie alle hatten in dieser Stadt ursprünglich eine Zukunft, die sie mitgestalten wollten. Nicht nur ableben. Nicht nur "wie eine Schraube von einer Maschine abfallen“, wie Ruth Maier dies formulierte. Dass sie mit Deportationszügen aus der Stadt hinausgekarrt werden würden, um in Konzentrationslagern ermordet zu werden, hätten alle diese Menschen für ihr Leben kategorisch ausgeschlossen. Dennoch war das ihr Schicksal.

 

Und heute? Nur wenige erinnern an sie. Doch ehemalige NSDAP-Mitglieder, NS-Mitläufer und viele Karrieristen der Zeit, behalten ihre Straßennamen. Und erhalten Zusatztafeln. Welches Narrativ erzeugen wir damit heute, im Zeitalter des national und international aufkeimenden Populismus?

 

Monat für Monat werden von Memory Gaps daher Interventionen und Ausstellungen von physisch realen Kunstwerken in virtuellen Räumen eröffnet, eine Auswahl aus tausenden Tuschen auf Papier, die an alle NS-Opfergruppen erinnern. In Straßen und an Plätzen, die es nicht gibt, die es jedoch geben sollte; gleichzeitig werden Monat für Monat mit den Mitteln digitaler Erinnerungskultur Straßennamen zur Umbenennung vorgeschlagen.

 

Ganz im Sinne des New Yorker Rabbi Marshall Meyer: „Heute müsst ihr entscheiden, welches andere Gestern ihr morgen wollt!“ Als virtueller, digitaler Brückenbau in die Vergangenheit, als Schließen von Erinnerungslücken, als Beitrag zum kollektiven Gedächtnis.