Wien, 9. April 1938: kein Tag wie jeder andere!
Bereits wenige Wochen nach dem Anschluss vom 13. März 1938, zeigten die großen Tageszeitungen Österreichs ein erschreckendes Bild der Gleichschaltung und des vorauseilenden Gehorsams.
"Österreichs Erretter – Großdeutschlands Erbauer", titelte die Illustrierte Kronen-Zeitung. Der Propagandaartikel bejubelt die "hochauflodernde Liebe zum Erretter der Nation und unserer Heimat", mit der "Glut der Liebe und Verehrung der Volksgemeinschaft". (Illustrierte Kronen-Zeitung, 09.04.1938, S. 2)
Der Wiener Rathausplatz, am 09. April 1938, um 11:35 Uhr, bot folgendes Bild:
Von Linz kommend, fuhr Hitlers Sonderzug um 11:15 am Wiener Westbahnhof ein. Die Wagenkolonne bewegte sich durch die Mariahilferstraße, die Babenbergerstraße und über den Ring durch das "Spalier der Hunderttausenden" (Wiener Neueste Nachrichten, 10.04.1938, S. 6) zum Wiener Rathaus.
Die erwartungsvolle Stimmung an diesem kühlen Apriltag wird wie folgt geschildert:
"Es ist 11 Uhr 35 geworden. Das Gewölk hat sich zerteilt und die Sonne strahlt auf das Meer der Fahnen und Menschen. Von der Ferne erhebt sich eine Welle des Jubels, pflanzt sich fort über das endlose Spalier der Menschen, die entlang dem Ring stehen. Immer näher dringt das Brausen, von der Burg, jetzt vom Parlament und nun bricht ein Orkan des Jubels los, wie ein einziger Schrei hallt es: »Führer, Sieg Heil!« Schon hat die Spitze der Wagenkolonne das Burgtheater erreicht und biegt nun ab in die Straße, die zum Rathaus führt. Unbeschreiblich sind die Kundgebungen der Freude und des Jubels und getragen von einer Woge grenzenlosen Glücks erreichte nun die Spitze des Zuges das Rathaus. Im ersten Wagen steht der Führer, er grüßt nach allen Seiten. Immer wieder branden ihm die Heilrufe entgegen, die in diesem Augenblick zu einer Offenbarung des Dankes, einer Manifestation der Liebe werden." (Illustrierte Kronen-Zeitung, 10.04.1938, S. 7)
"Der große, weite Platz vor dem Rathaus ist ein wogendes, brodelndes Menschen-meer. Soweit das Auge schaut, Menschen und wieder Menschen, die seit Stunden hier warten. Das leichte Schneegestöber, das von Zeit zu Zeit niederrieselt, vermag die Menschen nicht zum Weichen zu bringen. Immer neue Kolonnen rücken an. Die weite Zufahrtstraße zwischen Burgtheater und Rathaus säumen die Männer der SS-Leibstandarte ...
... deren Spalier sich längs der langen Front vor dem Rathaus fortsetzt … Über dem ganzen grandiosen Rahmen flattern die Hakenkreuzfahnen von den hohen, schlanken Masten, wehen vom Rathausturm, dessen oberste Spitze, der Rathausmann, zum zweiten Mal in der Geschichte beflaggt ist." (Illustrierte Kronen-Zeitung, 10.04.1938, S. 7)
Es war ein "triumphaler Empfang Adolf Hitlers in der Hauptstadt der Ostmark" (Kleine Volks-Zeitung, 10.04.1938, S. 2)
Auf der Freitreppe vor dem Rathaus erhält Hitler die sogenannten „Treuebotschaften“ der 31 Gaue überreicht.
Hitler zeigt sich an diesem 09. April 1938, dem Tag vor der sog. "Heiligen Wahl" (Neue Freie Presse, 10.04.1938, S. 1), der
"Volksabstimmung über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich", der jubelnden Menge vom provisorischen Holzbalkon des Wiener Rathauses. Er tritt aufgrund des
Begeisterungssturmes der Massen und Sprachchören, "... wir wollen unsern [sic] Führer sehen!" (Neues Wiener Tagblatt, 10.04.1938, S. 5), mehrfach auf den Balkon. Der gesamte
Propaganda-Festakt wird aus dem großen Festsaal des Rathauses über Lautsprecher auf den Adolf Hitler Platz (Rathausplatz) übertragen.
"Ergriffenheit liegt über den erwartungsvoll gestimmten Massen" (Neues Wiener Tagblatt, 10.04.1938, S. 5). Um 12:00 Uhr proklamiert Goebbels von ebendiesem provisorischen Holzbalkon des Wiener Rathauses aus den sog. "Tag des Großdeutschen Reiches".
Sirenengeheul, Läuten der Kirchenglocken Wiens sowie "donnernd dröhnende Motoren der Fluggeschwader" (Neues Wiener Tagblatt, 10.04.1938, S. 5) begleiten die
Inszenierung:
Dieser eigens für die Propagandaveranstaltung errichtete provisorische Holz-Balkon wurde in den Monaten nach der Kundgebung in Stein ausgeführt, d. h. nachgebaut und an die Fassade des Rathauses "angefügt". Dort befindet er sich noch heute, Jahr für Jahr mit Pflanzen und Blumen geschmückt, allen anderen Balkonen des Wiener Rathauses gleich, wie die Ausführungen der Intervention II, November 2018 zeigen.
Der Rathausplatz wurde erstmals im Jahr 1907 nach dem amtierenden christlichsozialen Bürgermeister in Dr.-Karl-Lueger-Platz umbenannt. 1926 wurde er unter dem sozial-demokratischen Bürgermeister Karl Seitz wieder in Rathausplatz rück-umbenannt. (Dem Platz Ecke Wollzeile/Stubenring wurde der Name Dr.-Karl-Lueger-Platz zugewiesen.)
1938 erfolgte die Umbenennung in Adolf Hitler Platz, wie das Schild an der Front des Rathauses zeigt. 1945 erhielt der Rathausplatz seinen ursprünglichen Namen zurück.
Zum zweiten Teil der Intervention
"Hitler-Balkon", November 2018
Zum dritten Teil der Intervention "Hitler-Balkon", April 2019
Zum vierten Teil der Intervention "Hitler-Balkon", März 2020
Zum fünften Teil der Intervention "Hitler-Balkon", September 2020