Kunstinitiative

des Gedenkens

When War Returns XXV: "Selbsttötung"

Ausstellung 01. - 29. Februar 2024

 

Konstanze Sailer

 

Tusche auf Papier

Epstein, Fürth, Friedell

 

 

Contemporary Art Space

Lothar-Fürth-Gasse 15

1080 Wien

 

 

Während sämtlicher Kriege aller Epochen nahmen sowohl vor den kriegerischen Gewalthandlungen, insbesondere jedoch nach deren Beginn Selbsttötungen zu. Aus Verzweiflung, Angst und Aussichtslosigkeit, aus Trauer über erlittene Ver-luste naher Menschen oder auch, um der Tötung durch Feinde zu entgehen.

 

Neben den "unmittelbaren" Opfern der NS-Diktatur, die in Konzentrationslagern und Gefängnissen ermordet wurden, gab es auch zahllose "mittelbare" Opfer. Menschen, welche dem Druck ihrer drohenden oder laufenden Verfolgung nicht mehr standhielten und sich aus Angst vor einer Verhaftung das Leben nahmen.

 

Selbsttötungen aus Verzweiflung, wie beispielsweise kurz nach dem "Anschluss" Österreichs, um nicht in die Hände der Schergen von Gestapo und SS zu fallen. Egon Friedell (* 21. Januar 1878 in Wien; † 16. März 1938 ebenda), Lothar Fürth (* 03. Februar 1897 in Wien, † 03. April 1938 ebda.), Ernst Epstein (* 4. Januar 1881 in Wien; † 21. Mai 1938 ebda.).

 

Bis zum heutigen Tag existiert in Wien keine Straße, die nach Ernst Epstein oder Lothar Fürth benannt ist. Hingegen ist nach Wilhelm Schmieger, von 1907 bis 1919 Stürmer der österreichischen Fußballnationalmannschaft, nach einem Studium der klassischen Philologie Gymnasiallehrer für Latein und Altgriechisch, NSDAP-Mitglied ab 1941 (Mitgliedsantrag 29.06.1938), Sportreporter und Sportschriftleiter der Kronen Zeitung bis 1942, Sportberichterstatter des Reichssenders Wien bis 1944, nach wie vor eine Straße in Wien Währing benannt. Anstelle von Wilhelm Schmieger könnte künftig an Ernst Epstein oder Lothar Fürth erinnert werden.

Suizid in der pervertierten "NS-Rassenlehre"

 

Die sog. "NS-Rassenlehre" erachtete die Selbsttötung als abzulehnende erbliche Degenerationserscheinung. Zudem wurde im Sinne des "NS-Volkskörpers" sogar zwischen "schädlichen" und "nützlichen" Selbstmorden bzw. Selbsttötungen unterschieden. Suizide sogenannter "wertvoller" Menschen waren "schädlich", jene "minderwertiger" Menschen wurden als "Gewinn für die Volksgesundheit" angesehen.

 

Der Terror von Gestapo, SA und SS, die landesweiten "Arisierungen", Berufs-verbote und extremen Mechanismen der Exklusion führten zur starken Anstiegen der Suizidraten. Die in Konzentrationslagern aus unüberbietbarer Verzweiflung begangenen Selbsttötungen waren Akte, die aus der völligen Ausgeliefertheit und Hoffnungslosigkeit erfolgten.

 

Der französische Soziologe Émile Durkheim schrieb in seiner Studie "Le Suicide": "Wenn der Mensch aus der Gesellschaft herausgelöst wird, begeht er nur allzu leicht Selbstmord. Das tut er auch, wenn er zu sehr in sie verstrickt ist."

"Aufschrei 17:39 Uhr", 2016, 48 x 36cm
"Aufschrei 17:39 Uhr", 2016, 48 x 36cm

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Ernst Epstein,

 

ein Cousin von Karl Kraus, war ein österreichischer Architekt jüdischer Herkunft und im Alter von 28 Jahren Bauleiter des Looshauses am Wiener Michaelerplatz. Aus Angst vor der Verhaftung durch die Gestapo ...

 

 

 

 

"Aufschrei 19:18 Uhr", 2016, 48 x 36cm
"Aufschrei 19:18 Uhr", 2016, 48 x 36cm

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

... nahm Epstein einige Wochen nach dem "Anschluss" Österreichs an das Deutsche Reich, am 21. Mai 1938, dem Tag nach der Einführung der Nürnberger Rassengesetze in Österreich, in einem, im Wiener Bezirk Hietzing von ihm erbauten Haus, eine Überdosis Veronal.

 

 

 

 

"Schrei 15:46 Uhr", 2016, 48 x 36cm
"Schrei 15:46 Uhr", 2016, 48 x 36cm

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Lothar Fürth

 

war in zweiter Generation Leiter des 1895 von seinem Vater gegründeten Sanatoriums Fürth in Wien Josefstadt. Mit zwei Operationssälen und über 50 Krankenzimmern war das Sanatorium auf eine Kapazität von etwa 1.200 Patienten pro Jahr ausgelegt und gelangte zu hoher überregionaler Reputation. Aufgrund massiver antijüdischer Ausschreitungen ...

 

 

 

 

"Aufschrei 19:07 Uhr", 2016, 48 x 36cm
"Aufschrei 19:07 Uhr", 2016, 48 x 36cm

 

 

 

 

 

 

 

 

... beging er gemeinsam mit seiner Frau Suse (Susanne), am 03. April 1938, Selbstmord in ihrer Wohnung in der Buchfeldgasse 13. Die Selbst-tötung des Ehepaares Fürth erfolgte, nachdem sie am Vortag vor ihrem eigenen Sanatorium zu einer der sog. "Wiener Reibpartien" – jener demütigenden Straßenreinigung unter Aufsicht der SA und dem schadenfrohen Gelächter der zusehenden "Nur-Dabeigewesenen" gezwungen worden waren.

 

 

 

 

"Schrei 20:17 Uhr", 2016, 48 x 36cm
"Schrei 20:17 Uhr", 2016, 48 x 36cm

 

 

  

 

 

 

 

 

 

Egon Friedell,

 

dessen Werke, allen voran die Kulturgeschichte der Neuzeit, seit 1937 von den Nationalsozialisten beschlagnahmt und ab 1938 verboten wurden, erwartete nach dem Anschluss sowohl aufgrund seiner jüdischen Herkunft als auch wegen seiner NS-kritischen Artikel, in erhebliche Schwierigkeiten zu gelangen. Die Schriftstellerin ...

 

 

 

 

"Schrei 21:57 Uhr", 2016, 48 x 36cm
"Schrei 21:57 Uhr", 2016, 48 x 36cm

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

... Berta Zuckerkandl versuchte vergeblich, noch am Tag des Anschlusses gemeinsam mit Paul Clemenceau, dem Bruder des französischen Staatsmannes, Friedell zur gemeinsamen Flucht in einem vorbereiteten Diplomatenwagen zu überreden. Nur vier Tage später, ...

 

 

 

 

"Schrei 22:04 Uhr", 2016, 48 x 36cm
"Schrei 22:04 Uhr", 2016, 48 x 36cm

 

 

 

 

 

  

 

 

 

 

 

 

 

 

... am 16. März 1938, läuteten zwei SA-Männer abends an Friedells Wohnungstüre, im dritten Stock des Wohnhauses Gentzgasse 7, in Wien Währing, um diesen zu verhören. Um einer Verhaftung zu entgehen, stürzte sich Egon Friedell aus dem Fenster und verstarb noch an Ort und Stelle.

 

 

 

 

"Aufschrei 22:38 Uhr", 2016, 48 x 36cm
"Aufschrei 22:38 Uhr", 2016, 48 x 36cm

 

 

 

 

 

  

 

Die in den Tuschen

 

von Konstanze Sailer angedeuteten Schreie sind in das Bild gesetzte sprachliche Zeichen. Sie ordnen zu: Kiefer zu Aufschrei, Schriftzeichen zu Todesphonem.

 

Diese Schreie tragen keine Namen, sondern individuelle Uhrzeiten. Damit repräsentieren sie Momente der Verwundung und des Todes. Erst durch den Nachhall der Aufschreie wird die Erinnerung dauerhaft.