Wien, 9. April 1938: kein Tag wie jeder andere!
Wenige Tage vor dem sog. Anschluss (13. März), bot der Wiener Rathausplatz, am 09. April 1938, um 11:35 Uhr, das folgende Bild:
Von Linz kommend, fuhr Hitlers Sonderzug um 11:15 am Wiener Westbahnhof ein. Die Wagenkolonne bewegte sich durch die Mariahilfer- und die Baben-bergerstraße über den Ring durch das "Spalier der Hunderttausenden" (Wiener Neueste Nachrichten, 10.04.1938) zum Wiener Rathaus.
Der "Hitler-Balkon", von dem aus Hitler niemals eine Rede hielt
Am 9. April 1938, um 12:00 Uhr, proklamierte einzig und allein Joseph Goebbels, vom provisorischen Holzbalkon des Wiener Rathauses aus, den sog. "Tag des Großdeutschen Reiches".
Hitler sprach niemals von diesem, eigens für die Propagandaveranstaltung errichteten Holzbalkon, sondern trat nur auf diesen, um sich der jubelnden Menge zu zeigen. Aufgrund des Begeisterungssturmes der Massen mit Sprachchören, "... wir wollen unseren Führer sehen!" (Neues Wiener Tagblatt, 10.04.1938), trat er sogar mehrfach auf den provisorischen Holzbalkon; jeweils ohne zu reden (die abgebildeten Mikrofone führten zu Fehlinterpretationen).
Der Propaganda-Festakt mit den Dankesworten Hitlers für die pathetische Begrüßung durch den Wiener Bürgermeister Hermann Neubacher fand im großen Festsaal des Rathauses statt und wurde von dort über Lautsprecher auf den – davor in Adolf Hitler Platz umbenannten – Rathausplatz übertragen.
Wie ein Denkmal für Hitler
Zu Ehren Hitlers wurde acht Monate später, mit Baubescheid vom 8. Dez 1938, anstelle des provisorischen Holzbalkons ein Steinbalkon errichtet – vor nunmehr über 85 Jahren! Hitler selbst stand niemals auf diesem Steinbalkon. Der noch heute an der Hauptfassade des Wiener Rathauses befindliche Balkon, der zudem täglich von nichtsahnenden Touristen fotografiert wird, ist kein ursprüng-licher Bauteil des 1872-83 im neogotischen Stil errichteten Gebäudes, sondern wurde in der NS-Zeit baulich angefügt. Der sog. "Hitler-Balkon" stellt zudem auch eine architektonisch-ästhetische Irritation dar, blickt man auf die vertikale Linien-führung des Hauptturmes. Wie ein brachialer Eingriff in die klare Formensprache Friedrich Schmidts, eines renommierten Architekten der Ringstraßenzeit.
Warum dieser nachträglich als "Stein-Denkmal" für Hitler errichtete Balkon immer noch erhaltenswert sein soll, entzieht sich dem Verständnis: sowohl aus architektonischer und politischer, als auch aus historisch-kultureller Perspektive. Seit April 2019 hatte die Stadt Wien aufgrund von Renovierungsarbeiten am Hauptturm des Wiener Rathauses die Möglichkeit, diesen, an die prominente Fassade wie einen Fremdkörper angefügten, Balkon kostengünstig entfernen zu lassen. Dieser Empfehlung von Memory Gaps wurde nicht entsprochen, der "Hitler-Balkon" stattdessen instandgesetzt und gereinigt.
Der gespiegelte "Hitler-Balkon" – eine Inszenierung (in) der Burg
Memory Gaps freut sich, dass das Burgtheater 2024 die von Memory Gaps zwischen 2018 und 2020 in Gang gesetzte Debatte in abgewandelter Form aufnimmt. Mit einem dem "Hitler-Balkon" nachgestalteten Balkon an der Hauptfassade des Burgtheaters sowie einer mehrstündigen Projektion der auf dem "Hitler-Balkon" niemals gehaltenen Rede Hitlers, wird die Kritik von Memory Gaps mit den Mitteln des Theaters weiter verdeutlicht und verstärkt.
Zu den weiterführenden Hintergrundinformationen, Fotos sowie historischen Filmaufnahmen und Wochenschauberichten:
Zum ersten Teil der Intervention "Hitler-Balkon", Oktober 2018
Zum zweiten Teil der Intervention
"Hitler-Balkon", November 2018
Zum dritten Teil der Intervention "Hitler-Balkon", April 2019
Zum vierten Teil der Intervention "Hitler-Balkon", März 2020
Zum fünften Teil der Intervention "Hitler-Balkon", September 2020